Wie KI die Demenzerkennung verbessern kann

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Durchbruch-Algorithmus erkennt Demenz mit 94%iger Genauigkeit anhand von Krankenakten
Die Früherkennung von Demenz ist eine der größten Herausforderungen im Gesundheitswesen. Während weltweit etwa 50 Millionen Menschen mit Demenz leben – eine Zahl, die sich bis 2050 verdreifachen soll – bleiben viele Fälle unerkannt oder werden zu spät diagnostiziert. Forscher aus Australien und den USA haben nun einen bahnbrechenden Algorithmus entwickelt, der Demenz mit beeindruckender 94%iger Genauigkeit erkennen kann, indem er Informationen aus elektronischen Patientenakten analysiert.
Die Innovation: Ein dualer Ansatz zur Datenanalyse
Das Forschungsteam unter der Leitung von Taya Collyer vom National Centre for Healthy Ageing entwickelte einen neuartigen “Dual-Stream-Algorithmus”, der sowohl strukturierte als auch unstrukturierte Daten aus elektronischen Gesundheitsakten (EHR) nutzt. Strukturierte Daten umfassen messbare Informationen wie Diagnose-Codes, Medikamentenlisten und demografische Angaben. Unstrukturierte Daten hingegen bestehen aus Freitext-Notizen von Ärzten, Pflegekräften und anderen Gesundheitsfachkräften.
“Wir verwendeten einen neuartigen, dualen algorithmischen Entwicklungsansatz, der gleichzeitig und separat ein klinisch bedeutsames Ergebnis modelliert”, erklären die Forscher. Dieser innovative Ansatz kombiniert traditionelle biostatistische Methoden mit modernster Natural Language Processing (NLP) – einer Form der künstlichen Intelligenz, die menschliche Sprache in Texten verstehen und analysieren kann.
Das Besondere an diesem Ansatz ist die Verwendung einer klinisch fundierten Falldefinition. Anstatt sich auf administrative Codes oder Medikamentenverordnungen zu verlassen – die bekanntermaßen unzuverlässig sind – nutzten die Forscher spezialisierte klinische Diagnosen als Goldstandard.
Beeindruckende Ergebnisse übertreffen bisherige Methoden
Die Studie umfasste 1.082 Teilnehmer im Alter von 60 bis 94 Jahren aus dem australischen Gesundheitssystem. Von diesen hatten 362 eine bestätigte Demenz-Diagnose von Spezialisten erhalten, während 720 nachweislich keine Demenz hatten.
Die Ergebnisse waren bemerkenswert:
- Strukturiertes Modell allein: 85,3% Genauigkeit (AUC 0.853)
- NLP-Modell allein: Bis zu 83% Genauigkeit
- Kombiniertes Modell: 94% Genauigkeit (AUC 0.951)
“Das finale kombinierte Modell übertraf alle anderen deutlich”, berichten die Forscher. Die Sensitivität (Fähigkeit, tatsächliche Demenz-Fälle zu erkennen) lag bei 92,8%, während die Spezifität (Fähigkeit, Nicht-Demenz-Fälle korrekt zu identifizieren) 72,2% erreichte.
Besonders beeindruckend ist der Vergleich mit anderen aktuellen Studien. Während ähnliche Forschungsarbeiten Genauigkeitsraten zwischen 62% und 91% erreichten, setzte dieser neue Algorithmus einen neuen Maßstab.
Praktische Auswirkungen für das Gesundheitswesen
Diese Entwicklung könnte das Gesundheitswesen revolutionieren. Derzeit verlassen sich Gesundheitssysteme auf drei unzuverlässige Indikatoren zur Demenz-Erkennung: ICD-Codes (internationale Klassifikation von Krankheiten), Verschreibung von Demenz-Medikamenten und Sterbeurkunden. Studien zeigen jedoch, dass die Sensitivität für Demenz-Diagnosen bei ICD-Codes gering ist, was zu einer systematischen Unterschätzung der Prävalenz führt.
Der neue Algorithmus könnte mehrere wichtige Anwendungen haben:
Bevölkerungsgesundheit: Genauere Schätzungen der Demenz-Prävalenz für bessere Gesundheitsplanung und Ressourcenallokation.
Klinische Versorgung: Identifikation von Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit für undiagnostizierte Demenz, die dann gezielten diagnostischen Verfahren zugeführt werden können.
Frühintervention: “Angesichts der Tatsache, dass die klinische Erkennung von Menschen mit diagnostizierter Demenz, die sich in Krankenhäusern vorstellen, schlecht ist und sie dem Risiko von Delirium und erheblichen Komplikationen aussetzt, bietet unsere Methode eine Strategie zur Erfassung”, erklären die Forscher.
Die Wissenschaft hinter dem Erfolg
Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der intelligenten Kombination verschiedener Datenquellen. Das strukturierte Modell berücksichtigte 16 wichtige Variablen, darunter Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Medikamente und Krankenhaus-Interaktionen. Das NLP-System analysierte Millionen von Wörtern aus Arztbriefen, Pflegenotizen und anderen Textdokumenten.
Die wichtigsten Konzepte, die das NLP-System zur Klassifikation nutzte, waren “Demenz”, “Altenpflege”, “Gedächtnis”, “Verwirrung” und “Desorientierung” – Begriffe, die oft in den klinischen Notizen von Demenz-Patienten auftauchen, aber in strukturierten Daten nicht erfasst werden.
Ausblick und Zukunftsperspektiven
Während die Ergebnisse vielversprechend sind, betonen die Forscher, dass weitere Validierungsstudien in verschiedenen Gesundheitssystemen erforderlich sind. “Unsere Algorithmen, die detailliert veröffentlicht wurden, um Validierung und Replikation zu unterstützen, stellen einen großen Schritt nach vorn bei der Nutzung routinemäßig gesammelter Daten für die Erkennung diagnostizierter Demenz dar.”
Die Technologie könnte auch für andere neurologische Erkrankungen angepasst werden und ebnet den Weg für eine präzisionsmedizinische Herangehensweise an die Neurologie. In einer Zeit, in der die Bevölkerung altert und neurodegenerative Erkrankungen zunehmen, könnte dieser Algorithmus ein entscheidendes Werkzeug für Gesundheitssysteme weltweit werden.
Kurze Zusammenfassung der Forschungsarbeit
Methodik: Die Studie nutzte einen dualen Algorithmus-Ansatz mit 1.082 Teilnehmern (362 mit bestätigter Demenz, 720 ohne Demenz). Strukturierte EHR-Daten wurden biostatistisch analysiert, während unstrukturierte Textdaten mittels Natural Language Processing verarbeitet wurden. Die Ergebnisse beider Ströme wurden in einem kombinierten logistischen Regressionsmodell zusammengeführt.
Zentrale Ergebnisse:
- Kombiniertes Modell erreichte 94% Genauigkeit (AUC 0.951)
- Sensitivität: 92,8%, Spezifität: 72,2%
- Signifikante Verbesserung gegenüber strukturierten Modellen allein (AUC 0.853)
- NLP-Klassifikatoren zeigten vergleichbare Leistung mit bis zu 83% Genauigkeit
Studienbegrenzungen: Relativ kleine, ethnisch homogene Stichprobe begrenzte die Anzahl der Kandidaten-Prädiktoren. Keine separate Validierungskohorte verfügbar. Weitere Validierung in verschiedenen Gesundheitssystemen erforderlich. Kausaler Zusammenhang konnte nicht etabliert werden.
Diskussion & Zentrale Erkenntnisse: Die Studie demonstriert erstmals erfolgreich die Überlegenheit kombinierter strukturierter und unstrukturierter EHR-Datenanalyse für Demenz-Erkennung. Der Ansatz könnte die Bevölkerungsgesundheitsüberwachung revolutionieren und klinische Versorgungspfade verbessern. Die Methodik ist auf andere neurodegenerative Erkrankungen übertragbar und stellt einen wichtigen Schritt zur präzisionsmedizinischen Neurologie dar.
Taya A. Collyer et al, Dual‐stream algorithms for dementia detection: Harnessing structured and unstructured electronic health record data, a novel approach to prevalence estimation, Alzheimer’s & Dementia (2025). DOI: 10.1002/alz.70132
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