Sehtest als möglicher Frühindikator für Demenzentwicklung

Neue Forschung zeigt Zusammenhang zwischen visueller Verarbeitungsgeschwindigkeit und zukünftigem Demenzrisiko
Eine umfangreiche britische Studie liefert neue Erkenntnisse über mögliche frühe Anzeichen für Demenzerkrankungen.
Die frühzeitige Erkennung von Demenz bleibt eine der größten Herausforderungen in der Neurologie. Während Gedächtnisprobleme als klassisches Warnsignal gelten, deuten aktuelle Forschungsergebnisse darauf hin, dass Beeinträchtigungen der visuellen Verarbeitung möglicherweise schon Jahre vor einer Diagnose auftreten können.
Eine neue Studie aus Großbritannien, die im renommierten Journal “Scientific Reports” veröffentlicht wurde, untersucht den Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit der visuellen Verarbeitung und dem Risiko, später an Demenz zu erkranken. Die Ergebnisse könnten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung effektiverer Früherkennungsmethoden leisten.
EPIC-Norfolk-Studie: Ein einzigartiger Langzeitblick
Für die Untersuchung wurden Daten aus der EPIC-Norfolk-Studie analysiert, einer großen bevölkerungsbasierten prospektiven Kohortenstudie mit 8.623 Teilnehmern im Alter von 48 bis 92 Jahren. Die Teilnehmer wurden zwischen 2004 und 2011 untersucht und bis 2019 nachbeobachtet – durchschnittlich etwa 9,6 Jahre.
“Wir wollten den Nutzen des Visual Sensitivity Tests (VST) bei der Identifizierung des Risikos einer zukünftigen Demenz bewerten”, erklärt Ahmet Begde, Hauptautor der Studie und Forscher an der Loughborough University. Der VST misst, wie schnell eine Person visuelle Reize verarbeiten kann. In der Studie wurden zwei Versionen dieses Tests verwendet:
- Der einfache VST: Teilnehmer sollten so schnell wie möglich reagieren, wenn sie ein Dreieck erkannten
- Der komplexe VST: Teilnehmer mussten auf ein aus beweglichen Punkten gebildetes Dreieck reagieren, was anspruchsvollere visuelle Verarbeitung erfordert
Diese Tests wurden mit etablierten kognitiven Screeningverfahren verglichen: dem Hopkins Verbal Learning Test (HVLT), der das Gedächtnis prüft, und dem Short Form Extended Mental State Exam (SF-EMSE), das die allgemeine kognitive Funktion bewertet.
Langsamere visuelle Verarbeitung = höheres Demenzrisiko
Die Ergebnisse waren aufschlussreich: Teilnehmer mit langsamerer visueller Verarbeitung hatten ein deutlich höheres Risiko, in den folgenden Jahren eine Demenzdiagnose zu erhalten.
“Personen mit niedrigeren Werten beim einfachen und komplexen VST hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Demenzdiagnose”, berichten die Forscher. Konkret war das Risiko beim einfachen VST um 39% erhöht (Hazard Ratio 1,39) und beim komplexen VST sogar um 56% (Hazard Ratio 1,56).
Obwohl die traditionellen kognitiven Tests – HVLT und SF-EMSE – sich als noch stärkere Prädiktoren für Demenz erwiesen (mit Hazard Ratios von 3,45 bzw. 2,66), zeigte der komplexe VST eine besondere Stärke: Er war empfindlicher gegenüber verschiedenen Risikofaktoren, die häufig mit Demenz in Verbindung gebracht werden.
Mehr als nur ein Sehtest
Besonders interessant: Der komplexe VST korrelierte mit zahlreichen bekannten Risikofaktoren für Demenz. Schlechtere Testergebnisse waren verbunden mit:
- Höherem Alter
- Weiblichem Geschlecht
- Niedrigerem Bildungsniveau
- Schlechterem allgemeinen Gesundheitszustand
- Selbstberichteter Diabetes
- Geringerer körperlicher Aktivität
- Selbstberichteten Sehproblemen
“Der komplexe VST zeigte eine größere Sensitivität für Variablen, die häufig mit Demenzrisiko assoziiert sind”, betont das Forschungsteam. Diese Empfindlichkeit gegenüber verschiedenen Risikofaktoren unterstreicht das Potenzial visueller Verarbeitungstests als ergänzendes Screening-Werkzeug.
Integrierter Ansatz für bessere Früherkennung
Die Studie legt nahe, dass die Integration von Tests zur visuellen Verarbeitung in bestehende kognitive Bewertungen die Identifizierung von Personen mit erhöhtem Demenzrisiko verbessern könnte.
“Die Kombination von Tests zur visuellen Verarbeitung mit anderen neuropsychologischen Tests könnte die Identifikation eines zukünftigen Demenzrisikos verbessern”, schreiben die Autoren.
Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass Menschen mit milder kognitiver Beeinträchtigung und Demenz oft Defizite in der visuellen Verarbeitung aufweisen. Diese aktuelle Forschung geht einen Schritt weiter, indem sie den prädiktiven Wert dieser Defizite in einer großen, bevölkerungsbasierten Studie über fast ein Jahrzehnt demonstriert.
Interessanterweise fanden die Forscher auch heraus, dass der komplexe VST ein signifikanter Prädiktor für Mortalität in dieser Kohorte war – ein weiterer Hinweis auf die mögliche Rolle der visuellen Verarbeitung als Marker für die allgemeine Gesundheit des Gehirns.
Künftige Forschungswege
Trotz der vielversprechenden Ergebnisse weisen die Forscher auf einige Einschränkungen hin. Die Teilnehmerpopulation war zu 99,7% weiß, was die Anwendbarkeit auf andere ethnische Gruppen einschränkt. Zudem könnten Faktoren wie gesundheitlicher Freiwilligenbias und die Verwendung selbstberichteter Gesundheitsdaten die Ergebnisse beeinflusst haben.
Für die Zukunft empfehlen die Autoren, den Einsatz kombinierter Testbatterien, die visuelle Verarbeitung einschließen, in ethnisch vielfältigeren Kohorten zu untersuchen. Auch die Entwicklung eines umfassenderen visuellen Scantests, der visuelle Sensitivität, Kontrastempfindlichkeit und Augenbewegungen umfasst, könnte vielversprechend sein.
Fazit: Ein neues Werkzeug für die Demenzprävention?
Diese Forschung eröffnet interessante Perspektiven für die Demenzfrüherkennung. Obwohl der VST allein weniger präzise war als etablierte kognitive Tests, zeigen die Ergebnisse, dass visuelle Verarbeitungsgeschwindigkeit ein wertvoller zusätzlicher Marker sein könnte, besonders in Kombination mit anderen Screening-Methoden.
“Da der VST mit mehr Demenzrisikofaktoren signifikant assoziiert war, könnte er in den Screening-Prozess für Demenzrisiko und Frühdiagnose neben anderen kognitiven Tests integriert werden”, schließen die Forscher.
Für die Millionen von Menschen weltweit, die von Demenz betroffen sind, könnten solche Fortschritte in der Früherkennung den entscheidenden Unterschied machen – indem sie ein Zeitfenster für Interventionen öffnen, bevor die Krankheit ihre volle zerstörerische Wirkung entfaltet.
Studienzusammenfassung:
1. Methodik
- Population: 8.623 Teilnehmer der EPIC-Norfolk-Studie im Alter von 48-92 Jahren
- Kognitive Tests: Visual Sensitivity Test (VST, einfach und komplex), Hopkins Verbal Learning Test (HVLT), Short Form Extended Mental State Exam (SF-EMSE)
- Demenzdiagnose: Erfassung über Krankenhausaufzeichnungen und Sterbeurkunden während einer Nachbeobachtungszeit von bis zu 14,8 Jahren
- Analysen: ROC-Kurven zur Bestimmung optimaler Cut-off-Werte, Cox-Regressionen für Risikoanalysen, Spearman-Korrelationen und logistische Regressionen zur Identifizierung von Assoziationsmustern
2. Hauptergebnisse
- Niedrigere VST-Werte waren mit einem erhöhten Risiko für zukünftige Demenz verbunden (HR 1,39 für einfachen VST, HR 1,56 für komplexen VST)
- HVLT und SF-EMSE waren stärkere Prädiktoren (HR 3,45 bzw. HR 2,66)
- Der komplexe VST zeigte eine höhere Empfindlichkeit gegenüber bekannten Demenzrisikofaktoren (Alter, Geschlecht, Bildung, Gesundheitszustand, Diabetes, körperliche Aktivität, Sehprobleme)
3. Einschränkungen der Studie
- Gesundheitlicher Freiwilligenbias und Schwund könnten die Stichprobe beeinflusst haben
- Überrepräsentation einer einzelnen ethnischen Gruppe (99,7% weiß)
- Verwendung selbstberichteter Daten für Komorbiditäten, körperliche Aktivität, Sehen und Hören
- Unterschiedliche Datenmanipulationen und Untersuchervariabilität könnten die Sensitivität der Tests beeinflusst haben
4. Schlussfolgerungen & Haupterkenntnisse
- Visuelle Verarbeitungsgeschwindigkeit könnte ein wertvoller Marker für zukünftiges Demenzrisiko sein
- Kombination visueller Verarbeitungstests mit anderen neuropsychologischen Tests könnte die Früherkennung verbessern
- Komplexe visuelle Verarbeitung scheint besonders empfindlich gegenüber verschiedenen Risikofaktoren zu sein
- Weitere Forschung in ethnisch vielfältigeren Kohorten und mit objektiven Messungen wird empfohlen
- Die Entwicklung umfassenderer visueller Scantests könnte zu effektiveren Screening-Methoden führen
Quelle
Begde A, Wilcockson T, Brayne C, Hogervorst E. Visual processing speed and its association with future dementia development in a population-based prospective cohort: EPIC-Norfolk. Sci Rep. 2024 Feb 29;14(1):5016. doi: 10.1038/s41598-024-55637-x. PMID: 38424122; PMCID: PMC10904745.