Durchbruch in der Neurochirurgie: Echtzeit-Tumoranalyse verändert Hirnoperationen

Revolutionäre Technologie ermöglicht Hirntumor-Diagnose während der Operation
Stellen Sie sich vor, ein Chirurg könnte während einer Hirntumor-Operation innerhalb von zwei Stunden eine präzise Diagnose erhalten, anstatt wochenlang auf Ergebnisse zu warten. Diese Vision ist jetzt Realität geworden: Forscher haben eine bahnbrechende Technologie namens ROBIN entwickelt, die die Diagnose von Hirntumoren revolutioniert.
Das Problem bisheriger Diagnostik
Bisher war die Diagnose von Hirntumoren ein langwieriger Prozess. Patienten und ihre Familien mussten oft wochenlang auf eine endgültige Diagnose warten. “Die durchschnittliche Wartezeit für methylierungsbasierte Klassifizierung lag bei 33 Tagen”, berichten die Forscher in ihrer Studie. Diese Verzögerungen können nicht nur psychisch belastend sein, sondern auch die Behandlungsplanung erheblich erschweren.
Das Hauptproblem lag in der aufwendigen Analyse: Gewebeproben mussten zu spezialisierten Laboren transportiert werden, wo komplexe Methylierungsanalysen – das sind Untersuchungen chemischer Veränderungen der DNA, die bei der Tumorklassifizierung helfen – durchgeführt wurden. Diese Methoden erfordern teure Geräte und können nur in wenigen Zentren durchgeführt werden.
ROBIN: Ein Wendepunkt in der Hirntumor-Diagnostik
Die neue ROBIN-Technologie (Rapid nanopOre Brain intraoperatIve classificatioN) basiert auf Nanoporen-Sequenzierung, einer innovativen Methode zur DNA-Analyse, die winzige Poren verwendet, um genetisches Material zu lesen. Das Besondere daran: Sie kann direkt im Operationssaal eingesetzt werden.
“ROBIN nutzt drei Methylierungs-Klassifikatoren, um die diagnostische Leistung im intraoperativen Setting zu verbessern”, erklären die Wissenschaftler. Die Technologie kombiniert drei verschiedene Analysemethoden – Sturgeon, CrossNN und einen Zufallswald-Ansatz – um die Genauigkeit zu maximieren.
Das System kann nicht nur intraoperativ (während der Operation) eine schnelle Klassifizierung liefern, sondern auch eine umfassende molekulare Profilierung innerhalb von 24 Stunden durchführen. Diese detaillierte genetische Analyse umfasst die Erkennung von Mutationen, Strukturvarianten (größere DNA-Veränderungen) und anderen wichtigen genetischen Merkmalen.
Beeindruckende Ergebnisse in der Praxis
Die Forscher testeten ROBIN an 50 Patienten während echter Operationen und erzielten bemerkenswerte Resultate. “Die Klassifikator-Leistung zeigte eine Übereinstimmung mit der finalen integrierten Diagnose in 90% der prospektiven Fälle”, berichtet das Forschungsteam.
Besonders beeindruckend ist die Geschwindigkeit: 76% der Fälle konnten innerhalb einer Stunde nach Beginn der Sequenzierung klassifiziert werden. Dies steht in scharfem Kontrast zu den Wochen oder sogar Monaten, die herkömmliche Methoden benötigen.
Die Technologie kann verschiedene Arten von Hirntumoren unterscheiden, darunter Glioblastome, Oligodendrogliome und Astrozytome. Sie erkennt auch wichtige genetische Marker wie IDH-Mutationen und kann sogar komplexe Genfusionen identifizieren, die für bestimmte Tumortypen charakteristisch sind.
Revolutionäre Auswirkungen auf Patienten und Chirurgie
Die Vorteile dieser Technologie gehen weit über die reine Geschwindigkeit hinaus. Chirurgen können nun ihre Operationsstrategie in Echtzeit anpassen, basierend auf der präzisen Tumordiagnose. Dies kann bedeuten, dass aggressivere Tumore vollständiger entfernt werden oder dass bei gutartigen Tumoren ein konservativerer Ansatz gewählt wird.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus der Studie: Ein Kind mit einem unspezifischen Tumor erhielt zunächst nur eine Teilentfernung, weil die Diagnose unklar war. Das Kind musste später eine zweite Operation durchlaufen, nachdem die herkömmliche Diagnostik eine aggressive Tumorart ergab. “Im Gegensatz dazu klassifizierte die nanoporen-basierte Analyse den Tumor korrekt intraoperativ und hätte dem Patienten unnötiges chirurgisches Risiko ersparen können”, berichten die Forscher.
Die Technologie ist auch kosteneffizient: Mit geschätzten Kosten von etwa 400 Pfund pro Probe ist sie vergleichbar mit herkömmlichen Methylierungsarrays, spart aber zusätzliche Tests ein.
Grenzen und Zukunftsperspektiven
Obwohl die Ergebnisse vielversprechend sind, betonen die Forscher wichtige Einschränkungen. Die Technologie kann noch nicht alle seltenen Tumortypen erkennen, die in neueren Klassifizierungssystemen definiert sind. Außerdem benötigt sie frisches Gewebe, was in manchen Zentren eine logistische Herausforderung darstellen könnte.
Die Wissenschaftler warnen auch, dass “eine definitive, quantitative Schwelle für die Klassifizierung derzeit nicht definiert werden kann”. Die Interpretation der Ergebnisse erfordert weiterhin die Expertise erfahrener Neuropathologen.
Ein Blick in die Zukunft
“Diese Technologie hat das Potenzial, den derzeitigen Standard der Versorgung für ZNS-Tumordiagnosen radikal zu verändern”, schlussfolgern die Forscher. Sie sehen ROBIN als ersten Schritt zu einer dezentralisierten, patientennahen Sequenzierung, bei der nur Daten zwischen Krankenhäusern übertragen werden müssen, nicht mehr das kostbare Gewebe.
Die Technologie könnte besonders in kleineren Krankenhäusern revolutionär sein, die bisher keinen Zugang zu spezialisierten Diagnostiklaboren hatten. “Die Kapital- und Verbrauchskosten sind relativ niedrig, und die Analyse kann an einzelnen Proben in Echtzeit durchgeführt werden”, erklären die Wissenschaftler.
Für Patienten und ihre Familien bedeutet dies vor allem eines: weniger Unsicherheit, schnellere Behandlungsentscheidungen und möglicherweise bessere Operationsergebnisse. In einer Zeit, in der jede Stunde zählen kann, bringt ROBIN die Zukunft der personalisierten Medizin direkt in den Operationssaal.
Zusammenfassung der Forschungsarbeit
Methodik: Die Studie testete die ROBIN-Technologie an 50 prospektiven intraoperativen Fällen und 30 retrospektiven Proben. Verwendet wurde PromethION-Nanoporen-Sequenzierung mit drei verschiedenen Methylierungs-Klassifikatoren. Die Forscher analysierten Methylierungsmuster, Kopienzahlvarianten und genetische Mutationen mit einem modifizierten Transposase-basierten Bibliotheksvorbereitungsprotokoll.
Hauptergebnisse: 90% Übereinstimmung mit der finalen Diagnose bei prospektiven Fällen, diagnostische Bearbeitungszeit unter 2 Stunden für intraoperative Klassifizierung, vollständige molekulare Profilierung innerhalb von 24 Stunden (vs. 33 Tage bei herkömmlichen Methoden), erfolgreiche Erkennung klinisch relevanter Mutationen und Genfusionen.
Studienbegrenzungen: Begrenzte Erkennung seltener Tumorentitäten, die in den Trainingsdaten der Klassifikatoren fehlen; Anforderung an frisches Gewebe; noch keine quantitativen Schwellenwerte für definitive Klassifizierung etabliert; Interpretation erfordert weiterhin neuropathologische Expertise.
Diskussion & Wichtige Erkenntnisse: ROBIN stellt einen bedeutenden Fortschritt in der intraoperativen Hirntumor-Diagnostik dar und könnte die Patientenversorgung durch schnellere, präzisere Diagnosen revolutionieren. Die Technologie ermöglicht chirurgische Entscheidungen in Echtzeit und reduziert diagnostische Verzögerungen dramatisch. Zukünftige Entwicklungen sollten sich auf die Erweiterung der Klassifikatoren für seltene Tumortypen und die weitere Standardisierung der Analyseparameter konzentrieren.
Quelle
Matthew Loose et al, ROBIN: A unified nanopore-based assay integrating intraoperative methylome classification and next-day comprehensive profiling for ultra-rapid tumour diagnosis, Neuro-Oncology(2025). DOI: 10.1093/neuonc/noaf103